Ein Badenmarathon
Von Señor Rolando
Früher, als die Welt noch in Ordnung war, lief Señor Pheidippides durch ein Stück von Griechenland, rief “Wir haben gesiegt!” und fiel tot um.
Heute gehen wir das ganze etwas zivilisierter an. Heute laufen wir nicht durch die Gegend, um eine Botschaft zu überbringen. Heute gestalten wir ein Volksfest und irgendwann währenddessen wird sich auch ein wenig bewegt. Normalerweise fällt dabei niemand tot um und das Ganze läuft in relativ geordneten Bahnen ab. Wenn man sich zumindest halbwegs an die Spielregeln hält, gibt’s am Ende sogar eine Medaille. Ich glaube, das war im alten Griechenland noch nicht so. Ein Hoch auf den Fortschritt.
Medaillen gab’s bei uns im Haus bekanntermaßen gestern schon: Beide Kinder haben eine abgesahnt. Die fortwährenden und langsam schon ins Gehässige abgleitenden Nachfragen, warum ich denn wohl keine habe, erträgt man auch als moderner Mann von heute nur bedingt. Also habe ich mir heute auch eine geholt.
Und ich geb’s ganz unumwunden zu: Das klingt einfacher als es war. Aber der Reihe nach.
Die Vorgeschichte
Es war gar nicht der erste Versuch. Zweimal bin ich vorher schon gescheitert. Beide Male verletzungsbedingt. Beide Male war da was circa zwei bis drei Wochen vor dem Termin. Das sollte dieses Mal anders werden. Dieses Mal habe ich mir mein Leiden schon vier Monate vor dem Termin geholt. Da blieb somit genug Zeit zum Auskurieren. Wenn’s denn dabei geblieben wäre. Aber mit Traditionen soll man bekanntlich nicht brechen. Also hat drei Wochen vor dem Start hier nochmal jemand nachgelegt und die linke Wade meldete ein K.O. Sie wollte bitte nicht weiter belästigt werden. Hochlegen auf der Couch? Klar, das sei drin. Bewegen aber? Draußen gar? Im Laufschritt? Vollkommen abwegige Idee. Meinte die Wade. Drei Wochen lang.
Gehässige Mitbürgerinnen und Mitbürger können jetzt natürlich sagen: “Tja, Du wirst halt auch nicht jünger.” Aber das ist natürlich Quatsch. Selbstverständlich werde ich jünger. Quasi täglich. Gefühlt zumindest. Heute morgen zum Beispiel: da ging’s mit der Wade. Sie durfte also mit.
Ready. Set. Go.
Unterwegs
Eins muss man der örtlichen Laufveranstaltung lassen: langweilig ist sie nicht. Auf der Straße läuft man selbst. Links und rechts daneben tummeln sich Musikanten, Bauch- und andere Tänzer, anfeuernde Südstaatler und örtlich sogar die eigene Familie und ein paar Nachbarn, lauthals brüllend. Was für ein Spaß. Das gibt’s sonst nur auf dem Spielplatz, also mit den Kindern, nicht den Nachbarn.
Auch auf der Strecke wird übrigens einiges geboten. Mitläufer können nämlich reichlich unterhaltsam sein. Da hat man beispielsweise schon im ersten Viertel der Strecke eine Nachfrage, was denn ein Schreibtischtäter eigentlich macht. Das Wort steht hinten auf meinem Shirt. Und wenigstens einer hat’s gesehen. Zack, da hat sich die Werbung doch glatt schon gelohnt.
Die üblichen “Komm, Du schaffst das!”-Motivationssprüche unterschlage ich jetzt mal. Vor allem auch jene, die sich ein Pärchen lautstark und über einen längeren Streckenabschnitt gegenseitig zuruft. Es gibt halt Sachen, die passieren auf der Strecke und sollten auch dort bleiben.
Nicht verschweigen möchte ich jedoch, dass ich Norman Bücher getroffen habe. Unterwegs! Die Südstaaten sind halt doch ein Dorf. Und zwar eines, bei dem man ganz nah dran ist an der Prominenz.
Der Mann mit dem Hammer
Wer kennt sie nicht? Die Mythen und Theorien rund um’s Marathonlaufen? Man kann ja quasi beliebig Leute auf der Straße ansprechen und nach konstruktiven Tipps fragen: man wird bestimmt nicht ohne Antwort davon gehen. Neben Hinweisen, es ruhig angehen zu lassen, um später ganz wild aufzudrehen hört man dabei mit besonderer Zuverlässigkeit vom Mann mit dem Hammer. Der steht genau bei Kilometer 35 und schlägt einfach zu. Bumm. Und man hat keine Lust mehr, stellt alles in Frage und zweifelt für drei Kilometer am Sinn des Lebens. Danach folgt nur noch butterweicher Zieleinlauf.
Soll ich mal etwas verraten? Alles Quatsch.
Denn auch, wenn man adäquat längere Trainingsrunden im Vorfeld absolviert hat, kann man den Hammermann schon bei Kilometer 23 finden. Weiter hinten ist’s ihm auf Dauer wahrscheinlich zu voll oder langweilig. Also hatten wir unsere Aussprache nicht erst im letzten Drittel, sondern einfach ein ganzes Ende früher. Und was soll ich sagen? Er hat gewonnen. Lust weg, Motivation weg, Energie weg, Tempo weg. Für den Rest des Rennens.
Klarer Vorteil dieses Dramas: der sagenumwobene Kilometer 35 wird auf einmal vollkommen harmlos und zu einem Streckenabschnitt wie jeder andere auch. Was bin ich froh.
Der Irrsinn mit der Strecke
Überhaupt: die Strecke. Vom Start bis zum Ziel sind es auf der Luftlinie circa 195 Meter. Beim Laufen nimmt man dafür einen Umweg von ziemlich genau 42 Kilometern, einmal quer durch die Stadt. Aber wie heißt’s so schön? Der Weg ist das Ziel. Dumm nur, wenn man die Stadt auch vorher schon kennt. Da wird der Weg recht schnell überraschungsarm. Ich fange langsam an, zu verstehen, warum so viele Leute so gern und oft für solche Späße um die halbe Welt reisen. Wer sagt denn, dass ein Städteurlaub immer gleich eine ganze Woche dauern muss? Man kann auch in ein paar Stunden quasi alles von einem Ort gesehen haben.
Danach
Als Erster gratuliert oben erwähnter Norman Bücher zum Finish der Runde. Ich habe durchaus eine Weile überlegt, ob ich mir die Schulter, auf die er geklopft hat, jetzt eine Woche lang nicht mehr waschen sollte. Zum Glück war das T-Shirt dazwischen. Die Entscheidung war somit doch machbar. Die Familie und Kollegen werden es wohl danken.
Viel lernen kann ich Anfänger offensichtlich noch von manchen der bereits erfahreneren Mitstreiter. In der eher ruhigen zweiten Hälfte des Rennens habe ich so manchen von ihnen des Öfteren getroffen. Mal liegt der Eine vorn, mal der Andere. Es ist ein Geben und Nehmen. Das Yin und Yang der Straße. Wir sind ähnlich erschöpft, wir quälen uns ähnlich stark durch die verbleibenden Kilometer. Während ich aber nachher kraftlos im Ziel abhänge und staune, wie langsam ich wieder regeneriere, treffe ich die Anderen, welche bereits lautstark die nächsten Rennen planen und von vergangenen Erfolgen schwärmen. Ich mache große Augen und stelle fest: von den Großen kann man immer lernen. Man muss die Gelegenheiten nur aufmerksam auf sich zukommen lassen.
Wieder raus aus dem Stadion mache ich mich langsam auf den Weg zur Straßenbahn. Wie gesagt: die Strecke verläuft quasi im Kreis. Am Ende kommt man einfach dort wieder an, wo man auch losgelaufen ist. Botschaften von A nach B braucht man dabei nicht zu überbringen. Sinn hat die ganze Aktion natürlich keinen. Aber wir hatten das ja schon. Kaum gibt’s dann eine Gelegenheit, doch noch Sinn in das Herumgelaufe zu bringen, vergeigt der gemeine Athlet aber auch das. Denn den Weg nach Hause laufen die meisten nicht etwa. Nein, den fahren sie mit der Straßenbahn. Irgendwie kann man die Mitläufer dabei leicht von den paar verbleibenden Fahrgästen unterscheiden. Ruck zuck werden wir zu Verbündeten auf Zeit. Wir werten aus, theoretisieren über Schuhe, Dämpfungen und das Barfußlaufen. Wir tauschen auch Tipps zur besten Strategie für die Regeneration aus. Schwimmen empfiehlt einer. Radfahren ein anderer. Radfahren ist schließlich etwas komplett anderes als Laufen. Das leuchtet ein. Ebenso wie der Tipp auf gar keinen Fall passiv auf der Couch abzuhängen. Genau jener Couch zum Beispiel, auf der ich diesen Text hier gerade schreibe. Aber mal im Ernst: wer tippt schon auf dem Fahrrad? Eben, vollkommen abwegige Idee. Dass die Anderen aber auch wirklich gar keine Ahnung haben müssen. Schlimm ist das.
Resümee
Tja, früher lief man von einem Ort zum Anderen, überbrachte eine Botschaft und fiel danach schlicht tot um. Heute jammern wir nur. Auf App.net und Twitter gibt’s für solche Späße ein prägnantes Hashtag: #allebekloppt. Und auf eBay sagt man wohl: Gerne wieder.
Treffender hätte ich es nicht sagen können. Zumal ich jetzt auch meine Medaille habe und von den Kindern wieder mit dem korrekt angemessenen Respekt behandelt werde.